Der Text ihres Herzens ist verstummt:
Wir trauern um Carola Stern
"Kurze Worte sollen gebraucht werden;
jeder mit seinen Gedanken kämpfen,
und sich mit denen und durch sie versöhnen."
Rahel Varnhagen (GW III, 584)
Unsere Schirmherrin, deren Auftritt im Abendgymnasium
Hagen bei der Rahel-Varnhagen - Ausstellung 1995 zwei
Jahre später den Anstoß zur Gründung
der Varnhagen-Gesellschaft gab, lebt nicht mehr. Wie
in der Presse mitgeteilt wird, erlag sie vorige Nacht
einer kurzen Erkrankung.
Ihre humanistische Einstellung und eine kompromißlose
Ehrlichkeit mit sich selbst haben ihre journalistische
Arbeit geprägt; in ihren literarischen Arbeiten
zu Dorothea Schlegel, Johanna Schopenhauer und Rahel
Varnhagen ("Der Text meines Herzens", 1994)
setzte sie sich kritisch mit ihren Vorbildern und Wunschschwestern
auseinander. Ihr letztes Buch widmete sie dem Schauspielerpaar
Marianne Hoppe und Gustav Gründgens.
Erika Assmus war 1925 in Ahlbeck auf Usedom zur Welt
gekommen.
Ihr Vater verstarb wenige Wochen vor ihrer Geburt. Die
elterliche Pension bewirtete bis in die 1930er Jahre
hinein auch jüdische Gäste, doch wurde Carola
Sterns Mutter 1933 Leiterin der Reichsfrauenschaft und
ihre Tochter führte selbstverständlich eine
BDM-Jungmädelgruppe. Daß sie selbst diese
Vergangenheit nicht verschwieg, sondern in ihrer Autobiographie
offenlegte ("In den Netzen der Erinnerung",
1986), verschaffte ihr nicht nur Freunde: "Manchmal
habe ich den Eindruck, es habe in Deutschland nur zwei
Nazis gegeben", äußerte sie nach vielen
öffentlichen Diskussionen, "der eine war Adolf
und der andere ich."
In der DDR arbeitet die begabte junge Frau bei einer
russischen Raketenversuchsanstalt und stieg zur Dozentin
an der Parteihochschule Kleinmachnow auf.
Ein zweites Mal schockierte sie 2001 die Öffentlichkeit
mit der Enthüllung, daß sie in dieser Zeit
auch als CIA-Agentin tätig war. 1951 ging sie in
den Westen, schrieb über die SED und Walter Ulbricht
und heiratete 1968 den NS-Überlebenden und einstigen
Kommunisten Heinz Zöger, der 1957 im Schauprozeß
gegen den Leiter des Aufbau-Verlages Walter Janka verurteilt
und nach zwei Jahren Haft in den Westen geflüchtet
war. Carola Stern übernahm im Verlag Kiepenheuer
& Witsch das politische Lektorat und hat die deutsche
Sektion von Amnesty International mitgegründet.
Später ging sie zum WDR und war als kritische Kommentatorin
in Rundfunk und Fernsehen eine Verfechterin der Ostpolitik
Willy Brandts und der Frauenemanzipation. Mit Heinrich
Böll und Günter Grass setzte sie sich für
Dissidenten hinter dem Eisernen Vorhang ein.
Der Varnhagen Gesellschaft hatte Carola Stern noch vor
kurzem zugesagt, eine für den Herbst 2006 in Berlin
geplante Ausstellung durch ihre Lesung aus "Der
Text meines Herzens" zu eröffnen. Kurz vor
ihrer Herzoperation ließ sie uns noch vom Krankenbett
durch eine Freundin telefonisch Grüße bestellen
und schrieb kurz darauf (7.12.):
"Lieber Nikolaus Gatter, die Schirmherrin liegt
im Krankenhaus und japst. Ich bedanke mich sehr herzlich
für all das Material, das Sie mir zu meinem Geburtstag
geschickt haben, besonders auch für die Gründgens-Unterlagen.
Ich könnte nach dem augenblicklichen Stand der
Dinge jederzeit zwischem dem 30. September und
dem 15. Oktober, wäre jedoch dankbar, wenn ich
bald das genaue Datum erfahren könnte. Es wäre
schön, von den Rahel-Freunden und -Freundinnen
zu lesen. Herzlich, Ihre Carola Stern kurz vor der Entlassung."
Und in ihrem letzten Schreiben vom 16. 12. heißt
es:
"Ich habe den 3. und 4. Oktober für die Varnhagen-Gesellschaft
frei gehalten und freue mich sehr, Sie und alle Rahel-Freunde
wieder zu sehen."
Statt dessen nahm sie nun vorzeitig Abschied von uns.
Wir werden ihr Andenken bewahren.
|